29. März 2002
Begegnungen zwischen Leibniz und Peter dem
Großen
1697 reiste Zar Peter mit seiner
„Großen Gesandtschaft“ nach Holland, um nicht nur den Schiffbau zu
erlernen. Unterwegs kam es südlich von Hannover in Coppenbrügge zu einer denkwürdigen
Begegnung zwischen dem jungen Herrscher und den Kurfürstinnen von Hannover und Brandenburg,
die Peters legendären Ruf an den Fürstenhöfen Europas begründete.[1] Der in hannoverschen
Diensten stehende Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz konnte an dieser Begegnung nicht teilnehmen.
Der Zar, der inkognito reiste, hatte für das Treffen eine begrenzte Personenzahl
ausbedungen.
Seit Jahren hatte Leibniz auf die Chance gewartet,
den Zaren zu treffen. Es war stets Leibniz` Ziel,
seinen theoretischen Erkenntnissen praktische Anwendung zu verschaffen. Zeitlebens war er auf der
Suche nach einem „großen Potentaten“, der aufgeschlossen war gegenüber modernen Ideen und mit
dessen Hilfe er seine Vorstellungen einer besseren Welt verwirklichen konnte. Im Zeitalter der
Absolutismus schien dies die aussichtsreichste Perspektive für einen Gelehrten, dem der Fortschritt
von Wissenschaften und Technik sowie die Verbesserung des Ausbildungswesens und der
ökonomischen Verhältnisse vordringliche Ziele waren. Der ebenso mächtige wie allen neuen Plänen
gegenüber aufgeschlossene Zar Peter, dessen Persönlichkeit ihn ohnehin faszinierte, mußte daher
für
Leibniz ein außerordentlich interessanter Ansprechpartner sein. Seitdem das westliche Europa über
die Jesuiten-Mission in engeren Kontakt zu China getreten war und Leibniz die Bedeutung der
Jahrtausendealten chinesischen Kultur erkannt hatte, sah er in Rußland zudem das natürliche
Bindeglied zwischen dem europäischen und chinesischen Kulturkreis [2], das Zentrum einer künftigen
Synthese zwischen Morgen- und Abendland. Mit den sich anbahnenden Umwälzungen im Russischen
Reich schienen seine Hoffnungen in Erfüllung zu gehen: Voller Erwartungen verfolgte er den Wandel
in Rußland, wie er sich unter Peter I. abzeichnete.
Seitdem Leibniz vernommen hatte, daß der Zar
unerkannt durch Deutschland reiste, hatte er sich
aufs Genaueste über die einzelnen Stationen der russischen Gesandtschaft berichten lassen.[3]
Leibniz eilte weiter westlich nach Minden, um Zar Peter dort nach seiner Abreise aus Coppenbrügge
zu erwarten. Bei sich trug er eine Denkschrift mit zahlreichen Reformvorschlägen für das Russische
Reich. [4]
Den Zaren bekam Leibniz jedoch nicht zu Gesicht. Es
gelang ihm lediglich, mit dem Neffen des
russischen Gesandten Franz Lefort, dem jungen Peter Lefort, Bekanntschaft zu machen, der mit der
Gesandtschaft reiste.[5] Von ihm suchte er Nachrichten über Rußland zu erhalten, ihn bat er um
Sprachproben der verschiedenen Völker des Russischen Reiches. Offensichtlich wurden auch mögliche
Verbessserungen der Verkehrsverbindungen in Rußland erörtert: In Leibniz` Unterlagen fand sich
später die Skizze für das Projekt eines Wolga-Don-Kanals, die der Gesandte Golovin während der
„Großen Gesandtschaft“ zu Papier gebracht hatte. [6]
Um so größer war Leibniz`
Enttäuschung darüber, daß das offizielle Europa den Zaren bei seiner
Westreise vor allem in oberflächliche Empfänge verwickelte und lediglich versuchte, diplomatische
Ziele oder Handelsprivilegien von begrenzter Bedeutung zu erreichen. Die Erörterung grundsätzlicher,
strategischer Ziele sowie wissenschaftliche und kulturelle Fragen wurden, wie er meinte,
vernachlässigt: [7] „Denn den Geist eines einzigen Menschen wie des Zaren oder des Kaisers von
China zu gewinnen und ihn auf das wahrhaft Gute zu lenken, indem man ihn zum Eifer für den Ruhm
Gottes und für die Vervollkommnung der Menschen anregt - das heißt mehr tun als hundert
Schlachten zu gewinnen; denn vom Willen solcher Männer hängen mehrere Millionen andere
ab.“
Die unmittelbaren Ergebnisse von Leibniz`
Verbindung zum jungen Lefort blieben gering:
Übersetzungen des Vaterunsers, die er für sämtliche Sprachen des Russischen Reiches erbeten hatte,
waren bei der Weite des russischen Raumes nicht zu beschaffen; zahlreichen nichtchristlichen Völkern
Rußlands war das Gebet zudem unbekannt. [8] Der Kontakt riß ab, als Lefort in schwedische
Gefangenschaft geriet. [9]
So träumte Leibniz weiter von den
Möglichkeiten Rußlands als Bindeglied zwischen Europa und China.
Wo bislang endlose Steppen waren, von russischer Seite streng verboten für die Durchfahrt
westlicher Besucher, entwarf er Reisemöglichkeiten mit Hundeschlitten, die mit Segeln versehen
wären, „quer durch die Tartarei“: „Sobald die Segel nichts mehr leisten, machen die Hunde sich
ans
Ziehen, und wenn der Wind günstig ist, kehren sie in den Schlitten zurück und lassen sich nebst ihren
Herren weiterfahren.“ [10] Leibniz sammelte alle Informationen über Rußland und die Petrinischen
Reformen, die er erhalten konnte, vervollkommnete seine Projekte, schrieb an Mittelsmänner in
Rußland, wandte sich an die russischen Gesandten [11] - und wartete.
Über 10 Jahre später fand Leibniz eine
neue Möglichkeit, mit dem Zaren zusammenzutreffen.
Inzwischen hatte sich für Rußland das „Fenster nach Westen“ weiter geöffnet, der Zar hatte
sich
entschlossen, seinen Sohn, Zarewitsch Aleksej, mit einer westeuropäischen Prinzessin zu verheiraten.
Familiäre Verbindungen des Zarenhauses sollten die politischen Änderungen in Rußland unumkehrbar
machen. Die Wahl war auf eine welfische Prinzessin gefallen, Charlotte von
Braunschweig-Wolfenbüttel. Im Sommer 1711 fand die Hochzeit im damals sächsischen Torgau an
der Elbe statt, der Zar nahm persönlich an den Feierlichkeiten teil.
Bei dieser Gelegenheit gelang es Leibniz endlich,
eine Audienz beim Zaren zu erwirken. Das Treffen
hatte er von langer Hand geplant. Leibniz legte dem Zaren ein aus 10 Punkten bestehendes
Reformprogramm für Rußland vor, das seine Vorschläge von 1697 wieder aufnahm. [12] Der Verlauf
der ersten Unterredung zwischen den beiden Männern ist nicht überliefert, unter anderem dürfte es
um Verbesserungen des Handels, um einen Austausch der wissenschaftlichen Erkenntnisse zwischen
Europa und China und um die Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Rußland gegangen
sein. [13] Offensichtlich machten beide Gesprächspartner großen Eindruck aufeinander. Wie Leibniz
später schrieb, waren seine hochgespannten Erwartungen voll und ganz in Erfüllung gegangen. Für
den folgenden Tag war er zur Tafel des Zaren eingeladen, ihm wurde eine Stelle im russischen
Staatsdienst zugesagt. [14]
Beim unsteten Leben des Zaren, bei seinen
zahlreichen Aufgaben und Verpflichtungen während des
Nordischen Krieges blieb es allerdings schwierig, das Projekt in die Tat umzusetzen. Vergeblich
erinnerte Leibniz den Zaren im folgenden Jahr über den Gesandten Urbich an die vereinbarte
Zusammenarbeit - und an die ausstehenden Zahlungen für seine Dienste. [15] Von neuem versuchte
er deshalb, den Zaren - seinen „großen Potentaten“ - persönlich zu treffen. Als Peter Ende 1712
zu
einem Kuraufenthalt nach Karlsbad [Karlovy Vary] reiste, erreichte Leibniz bei Herzog Anton Ulrich
von Braunschweig-Wolfenbüttel, in dessen Diensten er als Bibliothekar stand, ihn als diplomatischen
Vermittler zwischen Österreich und Rußland zum Zaren zu schicken. Offiziell ging es um ein Bündnis
zwischen den beiden Mächten gegen Frankreich. [16] Wichtiger war für Leibniz jedoch gewiß eine
zweite Begegnung mit Peter I., bei der er seine Reformprojekte für Rußland wiederholen
konnte.
Offenbar fand Leibniz Gelegenheit, sich mit Peter
auch über Gesetzgebung und Justizwesen zu
unterhalten. Kurz darauf ließ der Zar Leibniz mitteilen, daß er ihn mit der Überarbeitung der
russischen Gesetze und der Verbesserung des Gerichtswesens in Rußland beauftragen wolle. Es
wurde beschlossen, Leibniz den Rang eines Geheimen Justizrats zu verleihen. Dabei handelte es sich
um einen in Rußland neuen Titel, der nach der - allerdings erst nach Leibniz` Tod in Kraft gesetzten -
Rangtabelle der Stellung eines Generals entsprach, verbunden mit dem erblichen Adel. Erneut wurde
dem Gelehrten die jährliche Zahlung einer namhaften Summe versprochen. [17] Geschmeichelt
konnte sich Leibniz nun als der „Solon Rußlands“ sehen. [18]
Die Begegnung schien für Leibniz ein
großer Erfolg zu sein. Auf der Rückreise Peters blieb er bis
Dresden im Gefolge des Zaren, bevor er sich - nunmehr auch im russischen Auftrag - in
diplomatischer Mission nach Wien begab. [19] Andererseits sollen aber auch Leibniz` Probleme mit
Peter dem Großen nicht verschwiegen werden: In der von ihm selbst entworfenen
Bestallungsurkunde war die Passage, nach der ihm für seine Arbeit „dienliche Nachrichten“ aus
Rußland zur Verfügung gestellt werden sollten, gestrichen worden - ebenso wie der konkrete Hinweis
auf die von ihm einzuleitende Justizreform. Leibniz erhielt nicht die gewünschten Informationen. Auch
die zugesagten Zahlungen ließen auf sich warten. [20] Vergebens erhoffte Leibniz in den folgenden
Jahren konkretere Anweisungen vom Zarenhof, vergebens bat er um seine zustehende Besoldung.21
Der Nordische Krieg war in eine entscheidende Phase getreten, während der Kämpfe um Finnland
blieb Peter unerreichbar. Im Sommer 1716 entschloß sich der Zar jedoch wegen seines
angeschlagenen Gesundheitszustandes erneut zu einer Kur - diesmal in [Bad] Pyrmont. Bei der
Gelegenheit kam es zwischen Leibniz und Peter zu einer dritten und letzten Begegnung. Eine Woche
verbrachte Leibniz im Gefolge des Zaren und begleitete ihn anschließend nach Herrenhausen bei
Hannover. Leibniz hatte vorgehabt, dem Zaren in Pyrmont eine seiner großen Erfindungen zum
Geschenk zu machen, eine mechanische Rechenmaschine, an der bereits lange gearbeitet wurde
[22]; zu seinem Bedauern war das Gerät nicht rechtzeitig fertig geworden. Ausführlich erneuerte
Leibniz gegenüber Peter noch einmal seine Vorschläge für das Reformwerk in Rußland. Vor allem bat
er, in Zukunft regelmäßig mit dem Zarenhof in Verbindung bleiben zu können. Sein Wunsch ging
nicht mehr in Erfüllung; ein halbes Jahr später starb Leibniz. [23]
Leibniz` Pläne für
Rußland
Verfolgt man Leibniz` Ausarbeitungen und
Denkschriften für Rußland von 1697 bis 1716, d. h. über
einen Zeitraum von fast 20 Jahren, fällt auf, daß die einzelnen Vorhaben bereits von Anfang an in
ihrer endgültigen Form durchdacht waren und sich im weiteren kaum veränderten. [24] Dadurch wird
deutlich, wie sehr Leibniz sich bereits zur Zeit der ersten Westreise Peters des Großen mit Rußland
beschäftigt hatte. Neben allgemeinen Vorhaben wie Überlegungen zur Durchführung eines
ökumenischen Weltkonzils unter Einbeziehung der orthodoxen Kirche oder eines Bündnisses der
christlichen Länder gegen das Osmanische Reich [25] finden sich in Leibniz` Briefen Vorschläge zur
Erforschung Sibiriens, zur Trockenlegung von Sumpfgebieten, zum Abbau von Bodenschätzen, zur
Verbesserung der Verkehrsverbindungen, zur Gründung von Fabriken, zur Anlage von Druckereien
und Bibliotheken, zur Einrichtung von zoologischen und botanischen Gärten, zur Verbesserung des
Bank- und Lombardwesens, zur Vervollkommnung des Zoll- und Steuersystems und zu
astronomischen Beobachtungen. In gleicher Weise forderte Leibniz eine vermehrte Anwerbung
ausländischer Fachkräfte nach Rußland und eine Erleichterung bei der Reiseerlaubnis für russische
Untertanen. [26]
Konkrete Vorschläge zur Errichtung von
Bergwerken und Manufakturen oder zur Neuregelung des
Justizwesens machte Leibniz allerdings nicht - und konnte sie auch nicht machen: Wie er selbst
feststellte, fehlte es ihm an den notwendigen Informationen. Die Erforschung des Landes, seiner
Völker, ihrer Geschichte und ihrer Gewohnheiten behielt deshalb für Leibniz stets vorrangige
Bedeutung. Die Ergebnisse dieser Studien sollten in einer russischen Enzyklopädie zusammengefaßt
werden, deren Anlage und Gliederung - mit Karten, Abbildungen und Tabellen - Leibniz bis ins
einzelne ausarbeitete. [27]
Dabei erschien Leibniz Rußland als Tabula
rasa, auf der etwas Neues, Besseres aufgebaut werden
könnte als im westlichen Europa: „... gleich wie die Aufführung eines ganz neuen Gebäudes etwas
Vollkommeneres zu Wege bringen kann als die Verbesserung und Aufflickung bei einem alten“ [28].
Eine solche Vorstellung von Rußland als Tabula rasa - Leibniz gebraucht mehrfach das Bild vom
neuen Gebäude, vom neuen Land, vom frischen Feld oder vom neuen Topf, der noch keinen
Geschmack angenommen hat [29] - durchzieht sein gesamtes Denken. So sollten in Rußland zur
Ausbildung der Beamtenschaft Universitäten nach westlichem Vorbild errichtet werden; die
Studierenden brauchten nach Leibniz` Ansicht aber nicht in eine dermaßen „unbeschränkte
Freyheit“
zu treten, wie sie an deutschen Universitäten eingerissen sei. [30]
Auch bei der geplanten Reform des Justizwesens in
Rußland hoffte Leibniz, Fehler der westlichen
Länder vermeiden zu können: Eine neue Gerichtsordnung in Rußland wäre tunlichst so zu gestalten,
daß ein Mittelweg gefunden würde zwischen der alten „Willkür“ der russischen Richter und
den
„weitläufftigen verderblichen Europäischen Prozessen“, die „mit den geschriebenen Gesetzen
und der
Gelehrsamkeit unterm Vorwand besserer Untersuchung bei den Völkern eingeschlichen“. [31] Leibniz
dachte hier an Auswüchse des Römischen Rechts, dessen Vereinfachung er in Deutschland seit
Jahrzehnten vergeblich anmahnte, um vor allem beim Kameralprozeß das Verfahren entscheidend
abzukürzen. Da jedoch ein klar bezeichneter Auftrag des Zaren fehlte und eine Justizreform in
Rußland offensichtlich erst nach Beendigung des Nordischen Krieges anzugehen war, kam Leibniz
tatsächlich über erste Studien des geltenden russischen Rechts, des „Ulo enie“ von 1649, nicht
hinaus. [32]
Bezeichnend für Leibniz`
Staatsverständnis ist weiterhin sein Bild einer „Staatsuhr“, in der dem
Potentaten gute „Collegien“, d. h. Ministerien, als „Haupträder“ zur Verfügung
stehen, die ihrerseits
wiederum weitere „Nebenräder“ antreiben. Das menschliche Leben sollte sich auf diese Weise
reibungslos, zum Nutzen aller gestalten. [33] Entsprechend stellte Leibniz sich die Organisation von
Forschung, Wissenschaft und Bildung vor, die er als die wichtigste Voraussetzung aller weiteren
Reformen in Rußland ansah. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand damit die Schaffung eines
universell ausgerichteten wissenschaftlichen Zentrums für Rußland, einer Akademie für Wissenschaft
und Künste, „worinn verschiedene Nationen Platz finden mögen“ [34]. Die Einrichtung sollte
für
sämtliche Universitäten des Landes zuständig sein und den Aufbau eines allgemenen Schulsystems
überwachen: „Dieses Collegium soll die Aufsicht haben über alle Schuhlen und Lehrende,
Druckereyen, das ganze Buchwesen und den Papierhandel“ [35]. In gleicher Weise sollte es
verantwortlich sein für das Medizinalwesen, für Bergwerke und Manufakturen sowie für Versuche auf
landwirtschaftlichem Gebiet. Auch über die Finanzierung einer solchen Einrichtung hatte sich Leibniz
Gedanken gemacht: Durch Handelsprivilegien und eine Reihe von indirekten Steuern, unter anderem
auf Bücher, Kalender und Zeitungen, sollte die Akademie unterhalten werden. Dem bisherigen
Staatshaushalt würden damit nach Leibniz` Vorstellung kaum Kosten entstehen: Letztlich würde die
Akademie sich durch die Einkünfte aus den von ihr initiierten Projekten selbst tragen.
[36]
Um dem nüchtern denkenden Herrscher seine
Vorstellungen nahezubringen, ließ Leibniz seinen
Akademiegedanken allerdings in den Hintergrund treten und machte zunächst Vorschläge, mit derer
raschen Billigung durch den Zaren er meinte rechnen zu können - Vorschläge, die unmittelbar Peters
Lieblingsthema betrafen, die Schiffahrt [37]. Immer wieder erhob er die Forderung einer
Nordkap-Expedition, durch die erkundet werden sollte, ob zwischen Asien und Amerika eine
Landbrücke bestehe [38]. Niemand könne zur Lösung dieser Frage mehr beitragen als der Zar, unter
dessen Botmäßigkeit die fraglichen Ländereien ständen. Am besten würde die Expedition zu
Wasser
erfolgen, und zwar im Sommer, wenn nördlich des Polarkreises die Sonne nicht untergeht. Man solle
zunächst zu beiden Seiten des Meeres einzelne Stationen einrichten und sich von dort aus
schrittweise vorantasten. Dann könne man sehen, „ob das Land enger werde oder sich ausbreite, also
die Hofnung zu einem Cap vermehre oder vermindere“. Gegebenenfalls könnte man auch mit Hilfe
der Meeresströmungen und der Fischarten beurteilen, ob es zwischen beiden Kontinenten eine
Landverbindung gebe oder nicht [39].
Ein weiteres, stets wiederkehrendes Projekt war die
Messung der Abweichung des Kompasses vom
astronomischen Nordpol. Bereits seit Kolumbus war bekannt, daß diese „Deklination“ des Magneten in
einzelnen Ländern unterschiedlich war und daß sie von einer bestimmten Linie im Atlantischen Ozean
an von Nordosten nach Nordwesten überging. Bei der Schiffahrt wurde dies zur Bestimmung des
jeweiligen Längengrades genutzt [40] Seitdem hatte man entdeckt, daß jene Grenzlinie sich ständig
veränderte, und dafür diverse Erklärungsversuche gefunden. Der englische Astronom Edmond Halley
hatte das Phänomen Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Theorie von vier magnetischen Erdpolen
entschlüsseln wollen. Zur Überprüfung seiner Vorstellung hatte die britische Regierung 1698 bis 1702
drei Forschungsreisen in den Atlantik finanziert, und auch Leibniz hatte sich an der Diskussion
beteiligt.
Leibniz` Überlegungen nach mußte es
möglich sein, eine bestimmte Regel für die Bewegung der
Deklination zu finden und damit etwa alle zehn Jahre einen aktuellen „magnetischen Kalender“ für die
Schiffahrt zu erstellen. Zur Entdeckung einer solchen Regel waren jedoch weitere Messungen
notwendig, die er mit Hilfe des Zaren gewinnen wollte: In den wichtigsten Städten Rußlands, an den
Mündungen der großen Ströme, an den russischen Stationen am Eismeer, an den Straßen nach
Sibirien, nach Indien und nach China sollte der Ausschlag der Magnetnadel untersucht werden.
Zugleich erhoffte Leibniz sich damit weitere Informationen über Rußland, an denen ihm so viel lag:
Mit der Errichtung der Meßstationen könnten die Landkarten Rußlands überarbeitet, könnten
genauere Beobachtungen der Pflanzen, Tiere und Gesteine angestellt werden. Die Mitarbeiter der
Meßstationen würden außerdem ein hervorragendes Reservoir künftiger Staatsdiener abgeben.
Immer wieder betonte Leibniz gegenüber dem Zaren, wie wenig aufwendig solche Untersuchungen
wären - und wie außerordentlich wichtig für die Schiffahrt [41]. Besonderes Interesse Leibniz` galt
schließlich der Herkunft der Völker Osteuropas und Asiens. Wiederholt forderte er, ihre Geschichte,
Sitte und Religion niederzuschreiben. Leibniz verlangte die Aufzeichnung aller Volkssprachen. Immer
wieder erbat er Listen mit den am häufigsten gebrauchten Wörtern und Zusammenstellungen der
Berg- und Flußnamen. Diese Wörterbücher sollten seiner Vorstellung nach unter Mitwirkung von
Dolmetschern, Kaufleuten und Reisenden von Moskau, Astrachan, Tobolsk und Archangelsk aus
zusammengestellt werden [42]. Mit Hilfe des linguistischen Materials hoffte er, zahlreiche
unbekannten Zusammenhänge lösen zu können [43]. Die Realisierung seiner Vorschläge hat Leibniz
nicht mehr erlebt. Nur wenige Jahre nach seinem Tod entdeckte Bering im Auftrag der russischen
Regierung die nach ihm benannte Wasserstraße zwischen Asien und Amerika. Bald nach Leibniz` Tod
kam es zur Gründung der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg - nicht mit den
umfassenden Kompetenzen, die Leibniz sich gedacht hatte, aber sicher auch unter Berücksichtigung
seiner Anregungen. Einige Jahrzehnte später erlebte die vergleichende Sprachwissenschaft in Rußland
unter Katharina der Großen ihre erste Blüte, feste Meßstationen zur Untersuchung der Deklination
wurden Anfang des 19. Jahrhunderts eingerichtet, nachdem Alexander von Humboldt Leibniz`
Vorschlag wiederaufgenommen hatte [44].
Auch wenn die Mehrzahl von Leibniz` Projekten in
späteren Zeiten von anderen neu formuliert und zu
Ende gebracht wurde, selbst wenn die erdmagnetischen Variationen, wie wir heute wissen, nicht die
Regelmäßigkeit aufweisen, wie im 18. Jahrhundert angenommen wurde - Leibniz`
wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung auch für Rußland steht damit außer
Frage.
Andererseits ist zu berücksichtigen, daß
Leibniz seine Kenntnisse über Rußland durchweg von
westeuropäischen Besuchern bezog oder von Russen aus der Umgebung des Zaren, die ähnlich
dachten wie er selbst. Entscheidend für Leibniz` Rußlandbild war die Erfahrung, daß im Staate Peters
zu Beginn des 18. Jahrhunderts wesentliche Änderungen vor sich gingen, die er mit eigenen
Wertvorstellungen und Zielen identifizierte. Tatsächlich hat Leibniz Rußland niemals besucht. Er hatte
keine Vorstellungen von den gewaltigen Verkehrs- und Verwaltungsproblemen. Die historisch
gewachsenen kirchlich geformten Lebensverhältnisse des vorpetrinischen Rußland wurden von ihm
entweder nicht wahrgenommen, oder sie mußten ihm als „Barbarei“ erscheinen, die es galt,
abzuschaffen und die ohne weiteres abzuschaffen waren - allein durch Bildungsimpuls und
herrschaftlichen Befehl [45]. Für den offenen oder verdeckten Widerstand gegen Peters Reformen
konnte er kein Verständnis haben, eine Auseinandersetzung damit kommt in seinen Überlegungen
nicht vor.
Allerdings wird man Leibniz als Philosophen der
beginnenden Aufklärung daraus keinen Vorwurf
machen können. Sein ungebrochener Fortschrittsglaube nahm auch sonst wenig Rücksicht auf
historisch gewachsene Gegebenheiten. Die Fiktion einer „Tabula rasa“, die er auf Rußland bezog,
wurde für ihn selbst zu einem wesentlichen Impuls seiner Bildungs- und Reformideen.46 In geradezu
verführerischer Weise deckten sich zudem seine Vorstellungen mit dem offensichtlichen Wunsch
Peters des Großen, sein Reich zu „zivilisieren“ [47].
Festzuhalten bleibt schließlich, daß
Leibniz Rußland ohne jeden nationalen Vorbehalt gegenüberstand
- verpflichtet allein seinem Philosophenziel des „allgemeinen Besten“ für die gesamte Menschheit:
[48] „... denn ich nicht von den bin, so auff ihr Vaterland oder sonst auff eine gewisse Nation erpicht
seyn“, schrieb er 1712 an den Zaren, „sondern ich gehe auf den Nutzen des ganzen menschlichen
Geschlechts. Denn ich halte den Himmel für das Vaterland und alle wohlgesinnte Menschen für
dessen Mitbürger, und ist mir lieber, bey den Russen viel Guthes auszurichten als bey den Teutschen
oder andern Europäern wenig...“ [49].
Dies war Leibniz` Grundhaltung, durch die er sich
trotz aller Mißerfolge und Stagnationen über
Jahrzehnte hinweg nicht entmutigen ließ, dem Zaren seine Vorschläge immer wieder aufs Neue zu
unterbreiten - Vorschläge, die stets Teil einer größeren Konzeption waren, die jedoch bereits für
sich
allein genommen sinnvoll und machbar erschienen und deren Realisierung den ersten Schritt für die
Umsetzung weitergehender Vorschläge bedeutet hätte.
Quelle: Manfred von Boetticher in Lomonossow
Ausgabe 3/98 Sonderheft „Reformen für Russland -
Leibniz und Peter I. und der Transformationsprozeß der Gegenwart“ ISBN 3-9806633-0-2 /
http://www.lomonossow.de/
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[1] Vgl. R. Wittram, Peters des Großen erste
Reise in den Westen, in: JbbGOsteur 3, 1955, S. 390;
W. Mediger, Die Begegnung Peters des Großen und der Kurfürstin Sophie von Hannover in der
Darstellung A. N. Tolstojs, in: NdSächsJbLdG 26, 1954, S. 369 ff.
[2] Vgl. W. Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen
zu Rußland und Peter dem Großen, St.
Petersburg-Leipzig, 1873, Text, S. 23; L. Richter, Leibniz und sein Rußlandbild, Berlin 1946, S. 20,
45; M. Keller, Wegbereiter der Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz` Wirken für Peter den Großen
und sein Reich, in: dies. (Hrg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht, Bd. 1: 9.-17. Jahrhundert,
München 1985, S. 394 f., 399; R. Finster/ G. van den Heuvel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Reinbek
1990, S. 33.
[3] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S.
11.
[4] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr.
13.
[5] G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und
Briefe, Erste Reihe, Bd. 14, Berlin 1993, S. 384.
[6] Niedersächsische Landesbibliothek
Hannover: Ms XXXIII 1749 Bl. 5; Guerrier (wie Anm. 2),
Quellen, Nr. 24; E. Benz, Leibniz und Peter der Große. Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-,
Religions und Wirtschaftspolitik seiner Zeit, Berlin 1947, S. 41.
[7] Vgl. Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 22; Benz
(wie Anm. 6), S. 8 f., 18; Keller (wie Anm. 2), S.
411.
[8] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S.
19.
[9] Ebenda, S. 41.
[10] Ebenda, S. 33.
[11] Vgl. ebenda, S. 41 ff.; Benz (wie Anm. 6), S.
22; Keller (wie Anm. 2), S. 401.
[12] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 111 ff.;
Richter (wie Anm. 2), S. 46 f.
[13] Keller (wie Anm. 2), S. 404
f.
[14] Richter (wie Anm. 2), S. 46, 48 f.; Guerrier
(wie Anm. 2), Text, S. 118 ff.
[15] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 136 f.,
131.
[16] Ebenda, Text, S. 146.
[17] Ebenda, S. 147 f.
[18] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 187;
Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 147 f.; Benz (wie Anm.
6), S. 26.
[19] Vgl. Richter (wie Anm. 2), S. 51
f.
[20] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 174-176;
vgl. Benz (wie Anm. 6), S. 24 f.; Richter (wie
Anm. 2), S. 51 f.
[21] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 165, 168, 171;
vgl. Quellen, Nr. 219.
[22] Vgl. Finster/ van den Heuvel (wie Anm. 2), S.
105 ff.
[23] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 174 ff.;
Richter (wie Anm. 2), S. 52 f.
[24] Vgl. Benz (wie Anm. 6), S.
14.
[25] Vgl. ebenda, S. 45,
30.
[26] Vgl. Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 176; Benz
(wie Anm. 6), S. 8 f., 57; Richter (wie Anm. 2),
S. 45, 93.
[27] Benz (wie Anm. 6), S. 56
f.
[28] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 126 S. 176
f.
[29] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 9, 76, 175,
95.
[30] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 240, S.
352.
[31] Ebenda, Nr. 240, S. 348
f.
[32] H.-P. Schneider, Leibniz als Jurist, in: W.
Totok/ C. Haase, Leibniz. Sein Leben - sein Wirken -
seine Welt, Hannover 1966, S. 492 f., 497 ff.; vgl. Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 212, S.
312.
[33] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 244, S.
365 f.
[34] Ebenda, Nr. 127.
[35] Ebenda.
[36] Ebenda; vgl. Richter (wie Anm. 2), S. 42, 49
f.; Benz (wie Anm. 6), S. 81.
[37] Vgl. Benz (wie Anm. 6), S.
75.
[38] Ebenda, S. 51; Richter (wie Anm. 2), S. 101 f.
[39] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 158, S.
248 f.
[40] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S.
137.
[41] Vgl. Richter (wie Anm. 2), S. 94
ff.
[42] Richter (wie Anm. 2), S. 46 f.; Benz (wie Anm.
6), S. 78; Keller (wie Anm. 2), S. 395.
[43] Vgl. Benz (wie Anm. 6), S. 55
f.
[44] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S. 190; Richter
(wie Anm. 2), S. 54.
[45] Benz (wie Anm. 6), S. 83 ff., 87 f.; Keller
(wie Anm. 2), S. 396, 400, 412 f.
[46] Vgl. Benz (wie Anm. 6), S.
3.
[47] Guerrier (wie Anm. 2), Text, S.
12.
[48] Richter (wie Anm. 2), S.
42.
[49] Guerrier (wie Anm. 2), Quellen, Nr. 143, S.
208.
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