N. N.[1]

 

Sozialisten können in Europa noch Wahlen gewinnen. Die Präsidentenwahlen in Österreich 2004 und die Wiederkehr des „Genossen Trend“?

 

 

Das österreichische Präsidentschaftswahlergebnis vom 25. April 2004 hat eine weit über die Grenzen der Alpenrepublik hinausreichende Bedeutung. Ein echter Sozialist, der die Grundwerte der Sozialdemokratie von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einem über viele Dekaden reichenden geradlinigen politischen Leben ebenso geradlinig vertreten hat, hat die Volkswahl zum Präsidenten des Landes komfortabel gewonnen, in einem Europa des Neoliberalismus, der sozialen Zerrüttung und der Abkehr von eben diesen Werten der Gerechtigkeit und Solidarität. Der Wahlsieg dieses österreichischen Sozialisten (nebenbei bemerkt - auch Politikwissenschafter von Format) hat für das Europa von heute eine wichtige Botschaft – Sozialdemokraten, versteckt nicht Eure Sozialdemokratie, sie hat Zukunft.

 

Wiewohl die Eindeutigkeit des Wahlergebnisses vom 25. April 2004 fest steht, fehlte es nicht sofort an Stimmen – zumeist aus dem bürgerlichen Lager – die das Ergebnis zu relativieren suchten – sowohl mit Blick auf die Wahlbeteiligung[2] als auch in zeitlicher Perspektive. Im folgenden kurzen Artikel sollte nun eine langfristig-strukturelle und vergleichende Perspektive herangezogen werden, um die Bedeutung dieses historischen Wahlsieges besser einschätzen zu können.

 

Die Bedeutung des Wahlergebnisses vom 25. April 2004 lässt sich nämlich in historisch-vergleichender Sicht[3] und mit internationalen Querschnittsdaten über die Ergebnisse von Präsidentenwahlen in Demokratien belegen.

 

 

1) Dr. Fischer’s Ergebnis ist das beste Ergebnis vergleichbarer Präsidentschaftswahlen in der Zweiten Republik

 

 

Zunächst erzielte Dr. Heinz Fischer das beste vergleichbare Wahlergebnis sozialdemokratischer Kandidaten in der gesamten Zweiten Republik:

 

 

 

Simmenanteil SPÖ-Kandidat

Wahlbeteiligung

Name des Kandidaten

 

1951

52,1

96,9

Körner

1957

51,1

97,2

Schärf

1965

50,7

96

Jonas

1974

51,7

94,1

Kirchschläger

1986

46,1

87,3

Steyrer

1992

43,1

80,9

Streicher

2004

52,4

70,8

Fischer

 

 

2) Zum zweiten scheint fest zu stehen, dass die österreichische Sozialdemokratie mit diesem epochalen Wahlergebnis die Talsohle der 80-er und 90-er Jahre endgültig überwunden zu haben scheint:

 

 


 

 


3) Drittens fügt sich das Ergebnis ein in die Serie von unlängst stattgefundenen Landtagswahlen und in die lange Welle der Nationalratswahlergebnisse seit 1945

 

 

4) Heinz Fischer hat lediglich in Salzburg und Tirol nicht so überragend abgeschnitten wie im übrigen Bundesgebiet. Es kann keine Rede davon sein, dass „der Westen“ des Bundesgebietes der Gegenkandidatin „gehörte“, unter Berücksichtigung der traditionellen, sozio-strukturellen Bindungen des Wahlverhaltens in den österreichischen Bundesländern

 

 

 


 

 


5) Eine noch höhere Wahlbeteiligung hätte gegebenenfalls sogar noch mehr Stimmen für Dr. Fischer gebracht, vor allem im Hinblick auf Wien, wo die Sozialdemokratie noch nicht alle Reserven ausgeschöpft hatte:

 

 

 

 


 

 


Der Zusammenhang auf der Ebene der Bundesländer zwischen Wahlbeteiligung und Stimmen für Herren Dr. Fischer erklärt nur 2 % der Stimmen für den Kandidaten Dr. Fischer:

 

 

 

 


 

 

 

 


Die „schwarz-blaue Erfolgswelle“ ist ein Relikt der Vergangenheit

 

 

Schwarz-blau, das ist eine politische Linie, die in Europa derzeit an der Tagesordnung ist – Kürzungs“reformen“ des Sozialstaates, wie sie letztens auch der neue Kommissionspräsident Barroso in Portugal vorexerziert hat. Die Koalition von christdemokratischer ÖVP und freiheitlicher FPÖ in Österreich mag ihre österreichischen Spezifica haben, die hier nicht zur Debatte stehen – die allgemeine Linie ist die eines atlantisch orientierten, konservativen Neoliberalismus, wie er mit der EU-Präsidentschaft Barrosos auch endgültig zur europäischen Linie werden wird.

 

Aber diese Linie zieht in Österreich nicht mehr. Zu sagen, jemand, der mit 52,4 % der Stimmen souverän gewann (bei für westliche Demokratien heute sehr hohen 70.8 % Wahlbeteiligung), sei nur von einer Minderheit gewählt worden, ruft die Gegenfrage auf den Plan, wie es um die demokratische Legitimation etwa eines amerikanischen Präsidenten George Bush bestellt ist, der bekanntlich weniger Prozent der Stimmen erhielt als sein Gegenkandidat Al Gore (bei einer Wahlbeteiligung von unter 50 %). Selbst nach einer derartigen, fragwürdigen Logik haben am 25. April 2004 37,1 % der gesamten Bevölkerung für den Wahlsieger gestimmt. Jedenfalls scheinen die Tage der neoliberal inspirierten Wahlerfolge in Österreich für längere Zeit gezählt zu sein:

 

 


 

 


Der „Swing“ der Mitte der 80-er Jahre zu den Freiheitlichen einsetzte, ist gestoppt, und der „Stern“ der freiheitlichen Protestpartei, die von 1986 an die Innenpolitik in Österreich im Atem hielt, verblasst zusehends:

 

 

 

Nationalratswahlen

ÖVP

SPÖ

FPÖ

Grüne

andere

1945

49,8

44,6

 

 

5,6

1949

44

38,7

11,7

 

5,6

1953

41,2

42,1

11

 

5,7

1956

46

43,1

6,5

 

4,4

1959

44,2

44,8

7,7

 

3,3

1962

45,4

44

7

 

3,6

1966

48,4

42,6

5,4

 

3,6

1970

44,7

48,4

5,5

 

1,4

1971

43,1

50

5,5

 

1,4

1975

43

50,4

5,4

 

1,2

1979

41,9

51

6,1

 

1

1983

43,2

47,7

5

1,4

2,7

1986

41,3

43,1

9,7

4,8

1,1

1990

32,1

42,8

16,6

4,8

3,7

1994

27,7

34,9

22,5

7,3

7,6

1995

28,3

38,1

21,9

4,8

6,9

1999

26,9

33,2

26,9

7,4

5,6

2002

42,9

36,5

10

9,47

1,13

 

 

Der „Siegeszug“ der Freiheitlichen, der nach dem Ende der Ära Kreisky/Sinowatz einsetzte, scheint nun endgültig zur Neige zu sein, Österreich wird wiederum ein System mit „2 + 2 Halben“ großen, starken Lagern. Dies zeigt auch unsere Graphik, die die jeweiligen Verluste und Gewinne jeweils auf Kosten des anderen Lagers darstellt:

 

 


 

 

 

 


Ein Rückblick auf die in den letzten Jahren stattgefundenen Volkswahlen von Präsidenten in politischen Systemen, die im Jahr 2003 von der bekannten amerikanischen sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtung „Freedom House“[4] als „freie Demokratien“ bezeichnet wurden, zeigt für alle Staaten mit vorhandenen kompletten Daten[5] das folgende Ergebnis über die gute Wahlbeteiligung beim außerordentlichen Sieg von Dr. Heinz Fischer:

 

 

 

 

Land

Jahr des Wahlgangs

Wahlbeteiligung bei der Volkswahl des Präsidenten/der Präsidentin

Freedom-House-Index der Freiheit der Wahl (reicht von 2 - bester Wert - bis 14)

 

Österreich

2004

70,8

2

Slowakei

2004

43,5

2

Frankreich

2002

79,7

2

Slowenien

2002

65,2

2

Portugal

2001

57,2

2

Palau

2000

81,6

3

Finnland

2000

76,8

2

Kroatien

2000

74,3

5

Dominikanische Republik

2000

65,3

4

Polen

2000

62,6

3

Mexiko

2000

60

5

Rumänien

2000

53,9

4

Vereinigte Staaten

2000

49,3

2

Uruguay

1999

94,7

3

Israel

1999

84,5

3

Argentinien

1999

79,4

5

Panama

1999

76,3

3

Chile

1999

72,8

4

Namibia

1999

62,2

5

El Salvador

1999

38,1

5

Zypern

1998

85,6

2

Philippinen

1998

69

5

Irland

1997

47,7

2

Mali

1997

29,2

6

Island

1996

87

2

Ghana

1996

82,5

8

Benin

1996

72,9

4

 

Anmerkung: Die Werte für Österreich, Slowakei, Slowenien und Portugal für den Indikator Freiheit der Wahl wurden nach den Kriterien von Freedom House ergänzt.

 

 

Ausblick – Für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit

 

 

Das Ergebnis des historischen Wahlsonntags bedeutet, dass nun in Österreich die fundamentalen Fragen der sozialen Gerechtigkeit wieder zum Zentrum des politischen Diskurses werden können. In den meisten Staaten der Europäischen Union und in Österreich hat sich tatsächlich – so zeigen auch die neuen Zeitreihen des Ungleichheitsprojekts der Universität Texas[6], das erstmals im Schrifttum Daten über die soziale Ungleichheit in den wichtigsten Staaten der Welt auf kontinuierlicher Zeitreihenbasis seit 1963 präsentiert – die Ungleichheit seit 1963 in den späten 90-er Jahren zum Teil drastisch erhöht.

 

Das UTIP-Projekt errechnet auf Grund der genauen Beobachtungen der Lohndaten der ILO und der UNIDO für jedes Land den so genannten „GINI“ Index[7] der gesamtwirtschaftlichen Ungleichheit, der – in der vorliegenden Auswertung – von 0 (Minimalwert) bis 100 (Maximalwert) reicht. Die weltweit besten Werte hatte 1998, dem letzten Erhebungsjahr - Dänemark, gefolgt von Taiwan und Slowenien; Österreich liegt nur auf Weltrang 16 – hinter Finnland, Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden und zahlreichen anderen Staaten der Union, das Land mit der höchsten weltweit beobachtbaren Ungleichheit ist Mosambik (Rang 82); der schlechteste EU-Staat ist Griechenland (Weltrang 53). Auch Spanien und Irland weisen relativ hohe Muster der Ungleichheit auf.

 

Die Zeitreihen für die EU-Staaten lauten im Einzelnen:

 


 

 


 

 


 

 


 

 


Sinkende Wachstumsraten, wachsende Globalisierung, und steigende Arbeitslosigkeit kennzeichnen das Bild in fast allen reifen Demokratien des Westens, EU-15 Europa ist da keine Ausnahme. Die komplett im Internet herunter ladbare ökonomische und soziale Zeitreihen-Datenbank der Weltbank („Global Development Network“; sie wurde hier mit vergleichbaren Daten der ILO über die Arbeitslosigkeit kombiniert) erlaubt den Schluss, dass in Österreich das Anwachsen der Ungleichheiten bereits ab 1994 erfolgte; aber erst nach 1996 zeigen die Schwankungen der Auslandskapitalzuströme einen stärkeren Aufwärtstrend.

 

In der folgenden Zeitreihe wurde aus Gründen der besseren optischen Darstellung der Index[8] der Ungleichheit der Löhne aus dem Ungleichheitsprojekt der Universität Texas gewählt. Die Graphik vergleicht nun Kapitalzuströme pro Bruttoinlandsprodukt (Globalisierung), Arbeitslosigkeit (ILO), Ungleichheit (UTIP) sowie Wirtschaftswachstum in einer Zusammenschau. tatsächlich beobachten wir wachsende Globalisierung, steigende Ungleichheit, wachsende Arbeitslosigkeit und im Vergleich zu den 60-er und 70-er Jahren schwächere Wachstumsraten:

 

 


 

 

 


Mit dem epochalen Wahlsieg von Heinz Fischer haben über 2 Millionen Menschen in Österreich wohl die Hoffnung verknüpft, dass den Jahren des nach dem Fall des Eisernen Vorhanges folgenden „Erweiterungsbooms“ nun ebensolche Jahre der sozialen Gerechtigkeitsreform folgen werden, wie den Wachstumsjahren nach 1968 die Gerechtigkeitsreformen[9] der Ära Kreisky folgten.

 

Die Jahre der wachsenden Einkommenskonzentration, und wachsenden Globalisierung polarisierten die Gesellschaft und ließen die Arbeitslosigkeit anwachsen; und es ist nun die Zeit gekommen, dass die Sozialdemokratie die von ihr 1986 bis etwa 2000 abhanden gekommenen Wählerinnen und Wähler mit einer Politik ihrer Grundwerte zurückholt. Dr. Heinz Fischer hat vorgezeigt, wie dies zu erreichen ist, und es gilt nun, ein neues Projekt zu schreiben, dem Programm FÜR EIN MODERNES ÖSTERREICH der späten 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts vergleichbar: Für ein gerechtes Österreich. Ein buntes, auf Informationstechnologien basierendes, sozial gerechtes, kulturell und zivilisatorisch offenes Österreich. Dann wird die Genossin Trend/der Genosse Trend die Sozialdemokratie weiter wieder wie von selbst begleiten.

 



[1] Der Autor, ein bekannter österreichischer Politikwissenschafter, hat diesen Artikel unter einem Pseudonym verfasst, um Missverständnisse über seine privaten Meinungen und offizielle Meinungen zu vermeiden.

[2] Die Presse, 26. 04. 2004: Glosse: Der Sieg des Dritten Mannes. Die Wahlbeteiligung am Ende eines Lagerwahlkampfes muss allen zu denken geben. VON ANDREAS UNTERBERGER

[3] Zusammenstellung aus Statistik Austria, Stat. Jahrbuch 2004

[4] http://www.freedomhouse.org/

[5] http://www.idea.int/, dort insbesondere http://www.idea.int/vt/pres.cfm

[6] Das Projekt steht unter der Leitung des bekannten amerikanischen Wirtschaftsforschers James K. Galbraith und geht auf eine Stiftung aus dem Vermögen des verstorbenen ehemaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson zurück

[7] benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini (er lebte von 1884 bis 1965)

[8] Der so genannte Theil-Index der Ungleichheit, oft berechnet mit Statistiken der Löhne, ist benannt nach dem niederländischen Statistiker Henri Theil, und schwankt heute zwischen 0,01 (bester Wert, Finnland) und 0,10 (schlechtester Wert, Finnland).

[9] Diesen Begriff prägte der Züricher Soziologe Volker Bornschier. Vgl. http://www.unizh.ch/wsf/bornschier.html